„Es gibt drei Arten von Menschen: solche die sehen, solche die sehen, wenn sie es gezeigt bekommen, und solche, die nicht sehen.“ (Leonardo da Vinci)
Nicht erst seit der Corona-„Pandemie“ und nicht nur in den USA oder in Frankreich, auch hier: Die Gesellschaft erscheint überall gespaltener denn je. Nahezu jeder bewegt sich offenbar in einer Blase von Gleichgesinnten, die sich gegenseitig bestärken. Andere Meinungen werden nicht nur nicht akzeptiert, sondern geradezu bekämpft, teilweise mit allen – auch gewaltsamen – Mitteln. Der Andersdenkende ist für viele ein Feind, dem man gar nicht mehr zuhört, ihn vielmehr verächtlich macht. Die „asozialen Medien“ tragen ihren Teil dazu bei, nicht mehr den anderen Menschen mit all seinen Facetten zu sehen, sondern nur noch dessen „Weltanschauung“, nach der man ihn dann einsortiert in Freund oder Feind. Trotz oder gerade wegen der Globalisierung mit weltweiten Problemen wie dem „Klimawandel“, die eigentlich eine einige Welt erforderten, fragmentieren sich die Gesellschaften zusehends. Manch einer sucht in all der Unübersichtlichkeit mehr denn je das Verbindende in einer einfachen Lösung, die Abgrenzung lautet: Die anderen sind mal wieder an allem schuld, ob sie nun anders glauben oder lieben, woanders herkommen oder nur anders aussehen – oder in manchen Dingen anderer Meinung sind als wir … Das gilt im Großen wie im Kleinen.
Dabei können wir gerade im Kleinen, in unserer unmittelbaren Umgebung, viel für mehr Einigkeit und gegen das, was trennt, unternehmen. Indem wir im anderen, im Kunden, Nachbarn, Kollegen, eben zuerst den Menschen sehen – mit all seinen Liebenswürdigkeiten und Macken – und ihn nicht reduzieren auf ein bestimmtes Merkmal, das ihn von uns unterscheidet. Freiheit ist bekanntlich immer die Freiheit des Andersdenkenden. Diese Freiheit sollten wir hochhalten. Wir müssen andere Ansichten ja nicht annehmen, sondern können uns auch einig sein, dass wir uns eben nicht einig sind (mithin: agree to disagree).
Vermutlich erleben Sie in Gesprächen / in Telefonaten immer wieder Situationen, in denen Sie sich an dem stoßen, was Ihr Gegenüber sagt. Vielleicht schlucken Sie das herunter und geben Ihre Meinung nicht kund, weil Sie einen Kunden nicht verärgern wollen. Im Nachhinein grämen Sie sich dann. Das ist vielleicht gut gemeint, allerdings schlecht gemacht, denn es schwächt Sie. Sie können durchaus konstruktiv entgegnen, indem Sie zunächst aktiv zuhören und einen Puffer einbauen – eine Reflexionsfläche, bevor Sie reagieren: „Frau Seger, Sie sind also der Ansicht, dass … Das ist eine interessante Perspektive, ich gebe Ihnen teilweise recht. Aus meiner Sicht sind folgende Aspekte noch zu berücksichtigen: …“ Um angenehm und überzeugend zu klingen, achten Sie bei allem, was Sie sagen, auf Ihre Stimme. Sprechen Sie klar und deutlich, aber heben Sie die Stimme nicht, schreien Sie auf keinen Fall. Eine angenehme Stimme lässt abweichende Meinungen weniger schroff erscheinen. In der Sache bleiben Sie dabei ganz klar. Ihre Stimme können Sie übrigens trainieren. Bei allem, was Sie äußern, kommt es natürlich auf Kongruenz an: Das, WAS Sie sagen, muss dazu passen, WIE Sie es sagen. So sind Sie glaubwürdig. Passen Sie sich in Stimmmelodie und Sprechweise gern dem Gegenüber an. Ähnlichkeiten machen schließlich sympathisch. Inhaltlich vertreten Sie selbstverständlich und gelassen Ihre Ansicht, die der andere umso eher akzeptieren oder tolerieren kann, je konzilianter Sie in der Form agieren. Unterscheiden Sie stets zwischen dem Menschen und seiner Meinung. Sie können und sollen über eine Sache klare Werte vertreten und entsprechend konkret diskutieren, ohne den anderen abzuwerten. Selbstbewusst und kontrovers zu diskutieren, das stärkt übrigens auch Ihren Selbstwert.
Liebe ist die Antwort, Vertrauen die Lösung und Gelassenheit macht‘s möglich. 💞 Ich behaupte ja gar nicht, dass das immer so leicht ist, in Zeiten wie diesen. Es ist ein Abwägen, wann es besser ist, die Füße flach zu halten und wann, ins Handeln zu kommen. Manchmal ist es besser zu handeln, manchmal lässt man etwas geschehen – und handelt letztlich durch Nichthandeln. Das chinesische Tao nach Laotse spricht hier von wu wei[1].
Um über den Tellerrand der eigenen Befindlichkeiten und Komfortzone zu blicken, umgeben Sie sich bewusst auch mit Menschen, die Ihre Ansichten nicht vollends teilen. Konstruktive Unterhaltungen mit Andersdenkenden erweitern den eigenen Horizont. Viel zu selten treffen heutzutage Menschen aufeinander, die sich in vielem auf Anhieb fremd sind. Lässt man sich hingegen aufeinander ein, entdeckt man vielleicht doch versteckte Gemeinsamkeiten. Denn jeder Mensch hat bei genauerer Betrachtung etliche Rollen seiner Identität inne (ob als Ehefrau, Mutter, Telefonverkäuferin, Unternehmer, Sportler, Mitglied im Wanderverein, Hobbyköchin, engagierte Nachbarin und, und, und) und lässt sich eben nicht auf eine Rolle festschreiben, was leider viel zu oft geschieht.
[1] Theo Fischer: Wu wei. Die Lebenskunst des Tao. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 7. Auflage, 2009
Foto: Adobe #239052069 think for yourself Socrates @Yury Zap